Rettungswagen rast mit Blaulicht.

Corona Gerechtigkeit

SAMSTAG, 01. MAI 2021
84 Pro­zent Coro­na
Die­se Zahl ver­rät, wie unge­recht es zugeht
Von Kat­ja Kip­ping

Eine Kri­se, zwei Unge­rech­tig­kei­ten: Ärme­re haben ein höhe­res Risi­ko, an Coro­na zu erkran­ken. Und wäh­rend zahl­rei­che Unter­neh­men nicht wis­sen, wie sie die Kri­se über­ste­hen sol­len, strei­chen eini­ge Kon­zer­ne sat­te Gewin­ne ein.

Manch­mal ver­dich­ten sich die gro­ßen Unge­rech­tig­kei­ten in einer Zahl: Dies­mal ist es die 84. Die­se Zif­fer ver­sinn­bild­licht, wie unter­schied­lich die Fol­gen der Coro­na-Kri­se aus­fal­len können.

Einer­seits haben Lang­zeit­er­werbs­lo­se im Fal­le einer Infek­ti­on mit dem Coro­na­vi­rus ein um 84 Pro­zent erhöh­tes Risi­ko für einen Covid-19-beding­ten Kran­ken­haus­auf­ent­halt. Ande­rer­seits ver­dien­te Ama­zon allein im Geschäfts­jahr 2020 rund 21,3 Mil­li­ar­den Dol­lar, was einem Anstieg um 84 Pro­zent entspricht.

Es gibt Unter­neh­men, die in der Coro­na-Kri­se das Geschäft ihres Lebens machen. Nun kön­nen sie nichts dafür, dass wäh­rend­des­sen unzäh­li­ge Unter­neh­men, zum Bei­spiel in der Ver­an­stal­tungs­bran­che, nicht wis­sen, ob sie die Kri­se über­le­ben wer­den. Man kann sol­chen Kon­zer­nen auch nicht vor­wer­fen, dass Schau­stel­len­de und Kunst­schaf­fen­de mitt­ler­wei­le ent­we­der auf Hartz IV ange­wie­sen sind oder ihre Alters­vor­sor­ge auf­brau­chen müssen.

Ama­zon knau­sert beim Infektionsschutz

Doch was man Unter­neh­men wie Ama­zon vor­wer­fen kann ist, dass sie beim Infek­ti­ons­schutz knau­sern. Durch die­se Nach­läs­sig­kei­ten kommt es in Sor­tier­zen­tren immer wie­der zu Covid-19-Aus­brü­chen. Um nur eini­ge Bei­spie­le zu nen­nen: Am Stand­ort Gra­ben bei Augs­burg erkrank­ten im Novem­ber 2020 von 1800 rund 300 Beschäf­tig­te an Covid-19. Bei einem Mas­sen­test am Stand­ort Koblenz waren 170 von 800 Getes­te­ten posi­tiv. Der Gewerk­schaft Ver­di und der zustän­di­gen Amts­ärz­tin zufol­ge ist Ama­zon dort ein Coro­na-Hot­spot. Das liegt auch dar­an, dass die logis­ti­schen Abläu­fe nicht ent­spre­chend auf ver­bes­ser­ten Infek­ti­ons­schutz umge­stellt wur­den. Beschäf­tig­te beschrei­ben die Situa­ti­on so: “Du kannst dir gar nicht aus dem Weg gehen.”

In die­sen Tagen kam zudem ans Licht, dass Ama­zon an eini­gen Stand­or­ten trotz spru­deln­der Gewin­ne den Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern das Tra­gen der siche­re­ren FFP2-Mas­ken wäh­rend der Arbeits­zeit ver­bie­tet. Der Grund ist ein wah­rer Offen­ba­rungs­eid: Wer eine FFP2-Mas­ke trägt, muss häu­fi­ger eine Pau­se ein­le­gen. Und die­se Pau­sen gönnt der Kon­zern sei­nen Beschäf­tig­ten nicht. Dass damit die Infek­ti­ons­ge­fahr steigt, was den Lock­down für ande­re Bran­chen und die Gesell­schaft ins­ge­samt deut­lich in die Län­ge zieht, scheint man im Unter­neh­men von Jeff Bezos in Kauf zu nehmen.

Gei­zen beim Infek­ti­ons­schutz trotz spru­deln­der Gewin­ne — Ama­zon, geht’s noch? Ich mei­ne: Wer sich an der Kri­se berei­chert und auch noch beim Infek­ti­ons­schutz der Beschäf­tig­ten knau­sert, gehört zur Kas­se gebeten.

Schwe­re Erkran­kun­gen bei Ärmeren

Nun zu den ande­ren 84 Pro­zent: Das Immun­sys­tem von Ärme­ren und pre­kär Beschäf­tig­ten ist im Durch­schnitt weni­ger gut auf­ge­stellt, um das Virus zu bekämp­fen. Einer Unter­su­chung der Hein­rich-Hei­ne-Uni­ver­si­tät Düs­sel­dorf und der AOK Rheinland/Hamburg zufol­ge haben Arbeits­lo­sen­geld-II-Bezie­hen­de ein um 84 Pro­zent erhöh­tes Hos­pi­ta­li­sie­rungs­ri­si­ko. Mit ande­ren Wor­ten: Falls sie sich infi­zie­ren, ist die Wahr­schein­lich­keit deut­lich höher, dass ihre Erkran­kung einen so schwe­ren Ver­lauf nimmt, dass sie im Kran­ken­haus behan­delt wer­den müs­sen. Eine ande­re Stu­die kam zu dem Ergeb­nis, dass die­ses Risi­ko bei Leih­ar­bei­ten­den fast drei Mal höher ist als beim Durch­schnitt der Beschäf­tig­ten. Wie kann das sein? Das Virus schaut doch nicht aufs Bank­kon­to oder auf die Art des Arbeitsvertrages.

Coro­na-Maß­nah­men haben “Schlag­sei­te”


Gesund zu woh­nen, sich gesund zu ernäh­ren, das Immun­sys­tem mit ent­spre­chen­den Mine­ra­li­en und Vit­ami­nen zu stär­ken — all das muss man sich leis­ten kön­nen. Außer­dem hat es etwas damit zu tun, mit wel­chen Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten ein Mensch auf­wächst. Wenn man von Kind an ver­mit­telt bekommt, wie wich­tig es ist, auf sich selbst zu ach­ten, ist man spä­ter eher in der Lage dazu. Wer jedoch mit dem Gefühl auf­wächst, nicht wirk­lich zu zäh­len, dem fällt vor­sor­gen­der Gesund­heits­schutz spä­ter womög­lich schwe­rer. Und natür­lich hat nega­ti­ver Stress Ein­fluss auf das Immun­sys­tem. Unsi­che­re Arbeits­ver­hält­nis­se wie Leih­ar­beit, das Gefühl aus­ge­lie­fert zu sein — all das ver­stärkt nega­ti­ven Stress. Die har­te Erkennt­nis lau­tet: Men­schen mit weni­ger Geld und in unsi­che­ren Jobs erkran­ken eher schwer an Covid-19, weil ihr Kör­per Viren schlech­ter bekämp­fen kann.

Ange­sichts der enor­men Gewin­ne eini­ger Weni­ger und der exis­ten­ti­el­len Sor­gen der Vie­len for­dert sogar der Inter­na­tio­na­le Wäh­rungs­fonds IWF eine Soli­dar­steu­er von den Gewin­nern. Aber die wird in Deutsch­land und Euro­pa nicht kom­men, solan­ge die stär­ke­re Besteue­rung von Mil­lio­nen­ge­win­nen ein poli­ti­sches Tabu bleibt. Doch eine stär­ke­re Besteue­rung der Coro­na-Kri­sen­ge­winn­ler ist allein schon des­halb nötig, weil wir die Mit­tel brau­chen, um die sozia­len und exis­ten­ti­el­len Nöte der Vie­len abzufedern.

Kat­ja Kip­ping ist sozi­al­po­li­ti­sche Spre­che­rin der Lin­ken-Frak­ti­on im Deut­schen Bun­des­tag sowie ehe­ma­li­ge Vor­sit­zen­de ihrer Par­tei. Im wöchent­li­chen Wech­sel mit Kon­stan­tin Kuh­le schreibt sie die Kolum­ne “Kip­ping oder Kuh­le” bei ntv.de.

Quel­le: ntv.de

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