Limitierung der Wachstumspotentiale
Eine Kolumne von Henrik Müller Die Welt steckt in der Rohstoffkrise – und wir erleben, wie Engpässe unseren Alltag bestimmen. Vieles spricht dafür, dass die Zeiten der Überflusswirtschaft vorbei sind .24.10.2021, 14.26 Uhr
Vor 13 Jahren erfasste die letzte große Rohstoffkrise die Welt. Öl kostete damals zeitweise 140 Dollar pro Fass. Die Preise für Reis, Weizen oder Mais gingen durch die Decke. In ärmeren Ländern waren viele Menschen von Hunger bedroht. Proteste und Aufruhr waren die verständliche Folge. Im wohlhabenden Westen stiegen die Inflationsraten.
Eine höchst ungemütliche ökonomische Großwetterlage hat sich zusammengebraut. Statt eines ausgelassenen Nach-Covid-Booms, der den verzögerten Beginn der Goldenen 2020er-Jahre markiert hätte, scheint dem Aufschwung schon wieder die Puste auszugehen, bevor er richtig begonnen hat. Die Verspannungen waren zwar bereits vor mehr als einem Jahr absehbar. Doch die derzeitige Heftigkeit der Ausschläge ist doch überraschend.Zum Autor
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.
Es stellen sich drei Fragen: Haben wir es mit vorübergehenden Problemen zu tun, die bald gelöst sein werden? Oder ist dies der Beginn einer neuen Ära der Knappheiten? Und: Falls Letzteres zutrifft, stehen uns dann größere Verwerfungen bevor, beispielsweise eine globale Finanzkrise?
Stillstand ist keine Lösung
Die aktuellen Wirtschaftsprognosen jedenfalls sind weit entfernt von Panikmache. Ob Internationaler Währungsfonds (IWF) oder die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute – die Grundmelodie der Analysen ist recht optimistisch. Kommendes Jahr werde in den wohlhabenden Ländern wieder so etwas wie Normalität einkehren. Die Weltwirtschaft werde die Lieferengpässe allmählich überwinden. Die Preise für Energie und andere Rohstoffe werden deutlich sinken. Die Inflation geht zurück, das Wachstum zieht an. Immer mehr Menschen gehen wieder arbeiten: Die Beschäftigungsraten, die derzeit noch unter Vor-Corona-Niveaus liegen, sollten sich endgültig normalisieren.
Wenn der Winter erst vorüber ist, dann fängt ein mildes Frühjahr an. Das ist die derzeit dominierende Konjunkturstory.
Danach können wir uns dann endlich den großen Aufgaben zuwenden: dem Umbau in Richtung Klimaneutralität, einer konsequenten Digitalisierung, dem Abbau des öffentlichen Investitionsstaus. Zu tun gibt es wahrlich genug. (Achten Sie diese Woche auf Wasserstandsmeldungen der Ampelkoalitionäre in spe.) Ein fortgesetzter Aufschwung würde dabei helfen. Stillstand ist schließlich auch keine Lösung.
Die Geschichte von der Frühjahrserholung gilt derzeit auch als Richtschnur der Konjunkturpolitik. Notenbanker, zumal die führenden Köpfe der Europäischen Zentralbank (EZB), verwenden einige Mühen darauf, durch die aktuelle Lage »hindurchsehen« zu können. Da sie an kurzfristigen Verwerfungen der Märkte ohnehin nichts ändern können, versuchen sie, die mittelfristigen Aussichten abzuschätzen. Und die halten sie nach wie vor für prinzipiell rosig.
Unmittelbarer Handlungsdruck? Eher nicht. Während sich in Großbritannien und in den USA die Notenbanken bereit machen, die geldpolitischen Zügel allmählich zu straffen – und andere westliche Notenbanken erste Schritte bereits vollzogen haben –, gibt sich die EZB betont gelassen. Auch die noch amtierende Bundesregierung verhält sich angesichts der rapide steigenden Energiepreise eher passiv, während in Frankreich, Italien und Spanien die Regierungen versuchen, die Auswirkungen der Teuerung auf die Bürger abzufedern.
Von Unruhe keine Spur
Wichtigstes Indiz dafür, dass es sich bei den derzeitigen Verspannungen um ein vorübergehendes Phänomen handelt, sind die längerfristigen Inflationserwartungen. Die EZB beispielsweise befragt regelmäßig Volkswirte, wie sie die künftige Preisentwicklung in der Eurozone einschätzen. Die Werte sind zwar zuletzt etwas gestiegen, aber von Unruhe ist nichts zu sehen: Die meisten Befragten glauben, dass der Anstieg der Verbraucherpreise im kommenden und im übernächsten Jahr unter zwei Prozent liegen wird. Lediglich ein Fünftel der befragten Experten sieht Inflationsraten zwischen zwei und drei Prozent heraufziehen.
Von einer davongaloppierenden Inflation ist in den Umfragen nichts zu erkennen. Auch auf Fünfjahressicht rechnen die Befragten im Mittel mit Raten von 1,8 Prozent. Das entspricht in etwa der Zielmarke der Notenbanken, die Raten von zwei Prozent anpeilen. Wetten an den Finanzmärkten auf künftige Inflationsraten bestätigen die Einschätzungen der Experten.
In den USA liegt der Vergleichswert inzwischen bei 2,3 Prozent, wie die Federal Reserve Bank von St. Louis ermittelt hat. Auch das ist keineswegs ungewöhnlich: Die Zahlen entsprechen damit in etwa dem Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre. Die Inflationserwartungen sind nach wie vor »gut verankert«, wie Notenbanker das nennen. Also alles unproblematisch?
Tatsächlich ist die aktuell gemessene Inflation deutlich höher: In den USA lag die jährliche Steigerungsrate zuletzt bei 5,4 Prozent, in der Eurozone bei 3,4 Prozent (achten Sie Mittwoch auf neue Zahlen), in Deutschland für sich genommen bei 4,1 Prozent. Es stimmt schon: Ein Großteil dieses rapiden Anstiegs lässt sich durch einen statischen Effekt erklären; im Vergleichszeitraum des vorigen Jahres waren die Preise pandemiebedingt außergewöhnlich niedrig. Die davoneilenden Energiekosten lassen sich teilweise damit begründen, dass die Stärke der Erholung Produzenten und Versorger überrascht hat. Ähnliches könnte für die derzeit akuten Lieferengpässe gelten, die das Ifo-Institut nun auch für den Einzelhandel ermittelt hat. All das könnte sich zurückbilden, wenn sich das weltweite Angebot an die gestiegene Nachfrage angepasst hat. Dann sollte sich auch die Preisdynamik beruhigen.
Aber was, wenn nicht? Dann drohen einige sehr hässliche Überraschungen.
Eine globale Trendwende
Die Börsen sind nicht sonderlich gut darin, kommende Krisen vorherzusagen. Auch Konjunkturforscher tun sich schwer damit, radikale Wendepunkte zu prognostizieren. Womöglich stehen wir aber derzeit an einer solchen Schwelle. Der beruhigenden Geschichte von der Frühjahrserholung widersprechen jedenfalls einige strukturelle Verschiebungen, mit denen wir auf absehbare Zeit zu tun haben werden:
- Der demografische Wandel verknappt zusehends das Potenzial an Arbeitskräften, nicht nur in Europa. Dadurch haben Arbeitnehmer und Gewerkschaften mehr Verhandlungsmacht. Steigen die Lebenshaltungskosten, sollten sie rasch angemessene Lohnsteigerungen durchsetzen können.
- Die Globalisierung ist auf dem Rückzug. Die ehedem nahezu grenzenlosen Märkte werden von neuen Handelsbeschränkungen durchzogen. Dass die Unternehmen nun über Zulieferengpässe klagen, die zunehmend die Produktion lahmlegen, ist eine Folge dieser Entwicklung.
- Der Kampf gegen den Klimawandel dürfte eine grüne Inflation mit sich bringen. Wenn der Ausstoß klimaschädlicher Gase mit immer höheren Abgaben belegt wird, wenn immer weitere Bereiche des Wirtschaftens davon betroffen sind und wenn zusätzlich EU-Klimazölle die Importe aus Ländern verteuern, die abgasintensiver produzieren, dann wird das Auswirkungen auf die Lebenshaltungskosten insgesamt haben.
Fundamentale Faktoren, die eine Kehrtwende gegenüber der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte ankündigen. Wir haben uns an ein schier unerschöpfliches globalisiertes Güterangebot gewöhnt. Die Integration immer weiterer Beschäftigter in die Weltwirtschaft und in den heimischen Arbeitsmarkt dämpfte die Lohnentwicklung.Energie war vergleichsweise billig, obwohl wir wussten, dass die Erwärmung der Atmosphäre entschlossenes Handeln erfordern würde. All das hielt die Inflation niedrig. Aber das ist Geschichte. Wie gut die Notenbanken auch unter veränderten Bedingungen die Preisdynamik im Griff behalten können, ist eine offene Frage.
»Gefährliche Gelassenheit«
Aus diesem Blickwinkel betrachtet sind die bislang entspannten Inflationserwartungen ein Grund zur Beunruhigung. Ein ganzes Universum von Wertpapieren ist auf die Erwartung dauerhaft niedriger Inflationsraten und Zinsen gebaut. Entsprechend hoch sind die Schulden der Staaten, aber auch der Unternehmen und Privatpersonen in vielen Ländern.
Larry Summers, der frühere US-Finanzminister, sprach bereits im Mai von »gefährlicher Gelassenheit«. Alle miteinander würden die inflationäre Dynamik unterschätzen. Doch irgendwann könnten die Notenbanken gar nicht mehr anders, als die Zügel zu straffen: Anleihekäufe herunterfahren, Zinsen anheben. Und dieses verspätete Umsteuern werde die Finanzmärkte auf dem falschen Fuß erwischen, so Summers. Mutmaßliche Folge: die nächste Finanzkrise.
Dieses Szenario scheint näher zu rücken. Je mehr sich die Hinweise verdichten, dass sich die Preisdynamik verfestigt, desto weniger überzeugend ist die Story von der baldigen Normalisierung – desto unrealistischer erscheinen die derzeit noch niedrigen Inflationserwartungen. Die Wirtschaftspolitik müsse nun einen »heiklen Balanceakt« hinbekommen, schrieb kürzlich der IWF in seinem Bericht zur weltweiten Finanzstabilität. Notenbanken und Regierungen müssten auf die Bremse treten, aber sie sollten es so sachte tun, dass ein Crash verhindert werde. Gelegentlich enden Balanceakte jedoch tragisch: mit einem Absturz.